Meine Erinnerung an den Eisernen Vorhang

Meine Erinnerung an den Eisernen Vorhang

Zuversichtlich schaue ich in die Zukunft, zuversichtlich betrachte ich die nachbarschaftlichen Beziehungen unserer Länder. Doch ehe ich in meiner zukunftsorientierter Arbeit fortfahre, möchte ich erst flüchtig zurückblicken. Wie nahm ein kleines Kind die nähe des Eisernes Vorhangs wahr? Ich zeige Ihnen einen anderen Blickwinkel auf das Leben in der Grenzregion vor der Wende…

Diese kurze Erinnerung widme ich in memoriam allen „einfachen“ Menschen, die ihr Leben hinter dem Eisernen Vorhang durchlebten und denen die gekrümmten Wege ihres Schicksals nicht mehr ermöglichten, hinter eine verrostete Schranke zu treten.

Die ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich in der Nähe des Eisernes Vorhangs. Greifbar nah. Ich lebte in Aš (Asch). Die westlichste Stadt Tschechiens liegt im sog. Ascher Zipfel, den die Staatsgrenze von drei Seiten umgibt.
Bereits damals, als ich noch ein kleines Kind war, gab es sehr heiße Sommertage. Autos hatten wir natürlich nicht, also pendelten wir oft mit einem kleinen Zug, der nur aus einem Wagon bestand, zwischen Aš und Studánka (auf Deutsch Schönbrunn). Das kleine Dorf, in dem sich ein großer Badeweiher befand, liegt 10 km westlich von Aš entfernt. Die Zugfahrt amüsierte mich in meiner Kindheit genauso viel, wie das Badevergnügen im Schönbrunner Teich. Daher liebte ich die Fahrt dorthin, daher sind meine Erinnerungen nach ungefähr 35 Jahren immer noch so klar, als wäre es erst vorige Woche geschehen.

Wir stiegen immer in der Station Aš-Vorstadt ein und aus. Das war kein Bahnhof, sondern nur eine kleine Station im Vorort. Am Bahnsteig stand ein kleines verlassenes Häuschen. Der alte schäbige Putz fiel von den Wänden ab und im ehemaligen Vorgarten wucherten wilde Hecken, Brennnesseln und Kletten. Bereits als Kind liebte ich dieses Ort. Vieles deutete nämlich darauf hin, dass sich hier eine belebte Ortschaft befand. Einst lebte in dem kleinen Häuschen ein Eisenbahner mit seiner Familie. Vielleicht luden hier sogar Güterzüge ihre Fracht ab. Bis zu den Schienen führte nämlich eine alte, aber auffällig breite Straße, die große, uralte Kastanien umgaben. Hinter dem Bahnübergang wurde der Weg plötzlich viel enger, eine schwere und rostige Schranke hinderte den Zutritt. Dort führte die Kastanienallee noch einige hundert Meter weiter, bis sie in der Landschaft verschwand. Wir standen am Bahnsteig, nur wenige Meter von der Schranke entfernt und warteten auf den Zug. Neugierig fragte ich meine Mama: „Wohin führt dieser Weg?“ „Dort ist die Staatsgrenze“, erklärte sie. „Dort lauern versteckte Soldaten. Wenn du hinter die Schranke gehen würdest, würden sie dich erschießen“, fügte sie trocken hinzu. Ihre Antwort stellte mich zufrieden. Ich stellte mir vor, dass die uniformierten Männer mit den Gewähren hinter den breiten Baumstämmen in der Kastanienallee hocken, und hätte nie einen einzigen Schritt hinter die Schranke gewagt.

Während der Fahrt schaute ich raus aus dem großen, verschmutzten Fenster. Tausende Samen des Weidenröschenkrauts schwebten durch die Lüfte. Am Zug vorbei flogen sie über die wilden, trockenen Heiden. (Damals ahnte ich nicht, dass es noch vor circa vierzig Jahren ein fruchtbares Ackerland war, auf dem der fleißige Bauer im Schweiße des Angesichts sein tägliches Brot verdiente, genauso wie unzählige Generationen seiner Vorfahren.) Wie kleine Fallschirme brachte das östliche Augustlüftchen die kleinen Samen in die Ferne, über die breiten Wälder, bis zu den geraden Linien, die das weite Naturgelände zerschnitten und die ich während der Zugfahrt hin und wieder in der Ferne erblickte. Das war die Grenzlinie, der Eiserne Vorhang. Schnurstracks und schnell baute das Militär vor einigen Jahrzehnten schmale Wege auf, entlang der Staatsgrenze. Entweder wurden sie aus billigem Asphalt errichtet oder aus großen Betonplatten, die einfach nur nebeneinander gelegt wurden. Vermutlich waren es die gleichen Betonplatten, die damals auch beim Ausbau der Plattensiedlungen benutzt wurden. Neben diesen unendlichen, schrecklich geraden Wegen standen unendliche Wände aus den Stacheldrähten. Dort wimmelten Soldaten der Grenzkompanie, streng bewaffnet und oft in Begleitung von dressierten Schäferhunden und tschechoslowakischen Wolfshunden. Die verbotene Zone lag nur wenige Kilometer hinter den Gleisen. Aber damals machte ich mir keine Gedanken darüber, ich freute mich auf die Abkühlung im Schönbrunner Weiher und beobachtete während der Fahrt, wie der Wind die seidenhaarigen Samen des (damals bei uns zwar allgegenwärtigen, aber dennoch unbekannten) Heilkrauts spielerisch nach Westen fortbrachte – die Natur kennt keine Grenzen.

Meine jungen Eltern wurden bereits in den Kommunismus hineingeboren. Als sie in der Grenzregion heranwuchsen, wurde die Anwesenheit des Militärs zur Normalität. Zu Beginn der russischen Okkupation (August 1968) war meine Mutter erst acht Jahre alt. Sie kannte es nicht anders. „So ist es halt“, pflegte man zu sagen.

Im Jahre 1990 traten wir das erste Mal hinter die rostige Schranke, die alsbald verschwand, an den gewaltigen Kastanien vorbei. Als ich erfuhr, dass die Welt an dieser Schranke nicht endet, war ich erst acht Jahre alt. Die Generation meiner Eltern verbrachte ihr halbes Leben hinter dem Eisernen Vorhang, viele aus der Generation meiner Großeltern ihr ganzes Leben.

Gedenken wir heute gemeinsam all derjenigen hüben und drüben, denen ihr Schicksal nicht mehr gönnte, durch die Kastanienallee zu gehen, einfach hin und wieder zurück.

Unsere zwei Länder verbinden heutzutage schöne, gekrümmte Wege. Sie führen durch die malerischen Landschaften, in denen die Natur triumphierend über die Grenzen wächst, die einst der Mensch erschuf, in längst vergangenen Zeit.

Mit Respekt zur Mutter Erde,
mit Achtung zu unseren Vorfahren,
mit Liebe zu unseren Nachkommen


errichten wir Hand in Hand ein imaginäres Denkmal der ferner Vergangenheit. Bewahren wir
CZusammen die schön gekrümmten Wege als Merkmale unserer Zeit, als Merkmale unserer
Freiheit.


(Bildquelle: pixabay.com)